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9. August 2019

Erich Fromms Kritik am Freiheitsbegriff des Zivilisationsmenschen

Warum denken wir? Jede*, d* Yoga oder irgendeine andere Art der Meditation betreibt, weiß, dass es dabei darum geht, das Denken auszuschalten. Es geht darum loszulassen, damit man zu sich selbst zurückfindet. Betrachtet man Menschen in unzivilisierten (Indigene, Indianer, ursprüngliche Menschen außerhalb der Zivilisation) bis hoch zivilisierten Kulturen (im Extremfall Stadtmenschen in kapitalistischen Volkswirtschaften) unter folgender Sortierung

  1. Triebhaftes Handeln und Instinkt (vgl. Instinkttheorie)
  2. Intuition
  3. Reflexion und Kognition
dann wird klar, dass unsere Entwicklung während der zivilisatorischen Erziehung und Sozialisation wie im Zeitraffer[+] die Entwicklung nachvollzieht, die der Zivilisationsmensch über tausende Jahre Zivilisation durchlebt hat, siehe dazu u.a. Norbert Elias[+] zur Entstehung des Über-Ich.

Wie ist also das Denken entstanden?

Beginn der Bezahlwand

Erich Fromm sagt, wie im Folgenden belegt, dass das heutige „Denken” neben dem Freiheitsbegriff[+] infolge des Sündenfalls[+] entstanden ist. Es hat sich von seiner primitiven Urform[+] abgehoben und hat seitdem den Zivilisationsprozess betrieben. Erich Fromm meint dazu, dass wir uns vor dem Sündenfall[+] in einem Zustand unbewusster Existenz befunden haben. Wir haben eher instinktiv als kognitiv agiert.

Die folgenden Zeilen stammen aus dem Buch "Die Furcht vor der Freiheit[+]" von Erich Fromm, 1941. Sie beschreiben die Vorstellung Erich Fromms vom seelischen Übergang, der infolge des Sündenfalls[+] im Menschen stattfand. Für eine Reihe von Kulturanthropologen, Theologen und mich ist der Sündenfall[+] eine Metapher für das Ereignis der Entdeckung des Zinses durch den Menschen. Die tiefenpsychologischen Veränderungen, die das Zinsnehmen infolge des einsetzenden Kapitalismus[+] verursachte, sind heute mit Begriffen wie Vernunft[+], Denken, Individualität und Freiheit[+] verknüpft, und das Leben ist seit dem Sündenfall[+] Leiden.

Wenn man die Zeilen Erich Fromms genau liest, dann erkennt man seine Kritik des Freiheitsbegriffs[+] des Zivilisationsmenschen, der sich durch den Sündenfall[+] aus den primären Bindungen zur Natur (der ewige Bund, wie es in der Bibel bei Jesaja 24:5, 55:[1-5] und Jeremia 32:40 heißt, unserer existenziellen Beziehung zum (Stamm-) Baum des Lebens, aus dem wir hervorgehen und der uns ernährt, denn wir essen nichts Totes oder nie lebendig Gewesenes), über die er in seiner Zeit[+] im Paradies in die Natur als Teil von ihr eingebunden war, gelöst hat. Diese fehlende Bindung zur Natur wird uns heute immer mehr bewusst, wenn wir auf die Folgen unseres Handelns in der Welt blicken.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist zu verstehen, dass auch in uns diese Natur ist, von der wir uns entfernt haben. Die fehlenden Bindungen sind unsere (familiären) sozialen und psychischen[+] Spaltungen, unser fehlendes Mitgefühl für die anderen Geschöpfe des Planeten und für die Natur in uns.

Eine besonders aufschlussreiche Darstellung der grundsätzlichen Beziehung, die zwischen dem Menschen und der Freiheit[+] besteht, finden wir im biblischen Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies[+]. Dieser Mythos setzt den Beginn der Menschheitsgeschichte einem Akt der Wahl gleich, doch betont er höchst nachdrücklich die Sündhaftigkeit dieses ersten Aktes der Freiheit[+] und das sich daraus ergebende Leiden.

Mann und Frau leben im Garten Eden in vollkommener Harmonie miteinander und mit der Natur. Es herrscht Friede, und es besteht keine Notwendigkeit[+] zu arbeiten. Auch gibt es keine Entscheidungen zu fällen, keine Freiheit[+] und auch kein Denken. Dem Menschen ist es verboten, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Er missachtet Gottes Gebot und zerstört dadurch den Zustand der Harmonie mit der Natur, von der er zunächst ein Teil ist und die er nicht transzendiert.
Fromm schreibt, dass keine Notwendigkeit[+] zur Arbeit[+] bestehe. Ich gehe davon aus, dass er hier den heute geläufigen Arbeitsbegriff[+] verwendet, der in der Regel den Aspekt der Fremdbestimmtheit (Notwendigkeit[+], im Gegensatz zur Möglichkeit[+]) der heutigen Arbeit[+] beinhaltet. Als Anhaltspunkt für die Natur des Menschen vor dem Sündenfall[+], die Freiwillig- und Triebhaftigkeit seines Verhaltens können nur außerhalb der Zivilisation lebende Indigene dienen oder unsere nächsten Verwandten unter den Primaten. Schaut man sich an, aus welchen Motiven Indigene Handlungen verrichten, die man aus der Perspektive des Zivilisationsmenschen heraus als 'Arbeit[+]' bezeichnen würde, so wären es wohl Motive des unmittelbaren und zukünftigen Selbsterhalts. Sucht man diese Tätigkeit Indigener bei unseren nächsten Verwandten unter dem Primaten, würde wir wohl sagen, dass Menschenaffen, die den ganzen Tag von Baum zu Baum ziehen und darunter sitzend die Früchte aus der Schale pulen, Insekten suchen und mit Werkzeugen zutage fördern, so muss man das natürliche Verhalten des (zivilisatorisch) ungestörten Primaten als Arbeit[+] bezeichnen. Das pure Sein ist aufgrund der Notwendigkeit[+] des Selbsterhalts also schon Arbeit[+], die allerdings intrinsisch motiviert ist. Schaut man vom Standpunkt eines Ökologen aus auf das komplexe Austauschnetzwerk von Arten, so muss man Arbeit[+] mit dem äußeren Stoffwechel von Lebewesen, also dem NETTO Stoffwechsel[+] in das Lebewesen hinein und aus ihm heraus gleichsetzen. Der Zufluss lebendiger oder lebendig gewesener Materie in den Körper des Lebewesens entspricht dem Konsum, und der Abfluss fester, flüssiger und gasförmiger organischer Materie bildet die Exkremente.

Vom Standpunkt der Kirche aus, die Autorität repräsentiert, ist diese Handlung ihrem Wesen nach eine Sünde.

Vom Standpunkt des Menschen aus bedeutet sie dagegen den Anfang der menschlichen Freiheit[+]. Gegen Gottes Gebot handeln, heißt sich vom Zwang[+] befreien, aus der unbewußten Existenz des vormenschlichen Lebens zum Niveau des Menschen emportauchen.
Erich Fromm sagt hier, dass die Existenz des Menschen vor dem Einsetzen des Zinsnehmens unbewusst war. Man kennt vielleicht die Versuche mit Tieren und insbesondere Primaten, sie Spiegeln auszusetzen um sie sich selbst erkennen zu lassen. Etwas ähnlich Spiegelhaftes trägt die Formulierung in der Genesis, Gott habe den Menschen nach seinem Angesicht geschaffen. Der Mensch nach dem Sündenfall[+] ist also ein sich selbst Erkennender und Bewusster.

Das Wort 'emportauchen' suggeriert, dass der Mensch vor dem Sündenfall[+] in einem Wasser schwamm und infolge des Sündenfalls[+] zur Wasseroberfläche hinauftauchte. Das Wort 'auftauchen' identifiziert Fromm mit Bewusstwerdung und Selbsterkenntnis.

Im neuen Testament läuft Jesus[+] über das Wasser.
Nimmt man Fromms Interpretation des Unbewussten und vielleicht auch des Unterbewussten als das Wasser unter dessen Oberfläche der vorbewusste oder unbewusst existente Mensch schwamm, so ist das Laufen über das Wasser entsprechend eine Metapher für die vollkommene Selbstbewusstheit und Selbsterkenntnis und dann entsprechend für die Beherrschung der unbewussten Affekte und Triebe, die insbesondere dann erscheinen, wenn man über die als unsicher und instabil erscheinende Negativzins-Ökonomie[+] nachdenkt.

Mit dem Zins wird materielle und damit auch emotionale Sicherheit assoziiert. Welche Affekt und Ängste[+] auftauchen, sobald man anfängt, über negative Zinsen nachzudenken, kann jeder Unaufgeklärte selbst ausprobieren. Der Ursprung[+] dieser Affekte ist schwer aber letztlich sicher erklärbar.

Diese Affekte begleiten das Nachdenken über den Gruppenzusammenhang und die gegenwärtige und zukünftige materielle Sicherheit des Einzelnen vor dem Hintergrund der Änderung des Vorzeichens. Wie ich am 29.04.2017 schrieb, habe ich das Maat-Prinzip mit dem Prinzip des Steuermanns (vgl. Wortherkunft Kybernetik und theologische Verwendung des Wortes Kybernetik) an Bord eines auf dem Wasser fahrenden Schiffes in Verbindung gebracht und vermute eine Nähe zwischen Denkschulen (Freiburger Schule, Frankfurter Schule, österreichische Schule, Miserianer, Chicago School of Business Denkfabriken und diesen Schiffen auf dem Wasser.

Ich benutze hier außerdem in Bezug auf das Wort 'Mensch' eine andere Terminologie. Für mich waren wir Menschen vor dem Sündenfall[+] und sind durch das Zinsnehmen zum Zivilisationsmenschen geworden. Damit erkenne ich das Menschsein heute außerhalb der Zivilisation lebender Menschen an und stelle eher das Menschsein des Zivilisationsmenschen in Frage, den ich eher als „kapitalistisch“ bzw. „zivilisatorisch gestörten” Menschen bezeichnen würde.

Gegen das Gebot der Autorität handeln, eine Sünde begehen, ist in seinem positiven menschlichen Aspekt der erste Akt der Freiheit[+], das heißt die erste menschliche Tat. Im Mythos besteht die Sünde in ihrem formalen Aspekt darin, dass der Mensch gegen Gottes Gebot handelt; in materieller Hinsicht besteht sie im Essen vom Baum der Erkenntnis. Der Ungehorsam als ein Akt der Freiheit[+] ist der Anfang der Vernunft[+]. Der Mythos spricht auch noch von weiteren Konsequenzen dieses ersten Aktes der Freiheit[+]. Die ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Natur ist zerbrochen. Gott erklärt den Krieg zwischen Mann und Frau, den Krieg zwischen der Natur und dem Menschen. Der Mensch wird von der Natur abgesondert, er hat den ersten Schritt getan, dadurch menschlich zu werden, dass er ein "Individuum" wird. Er hat die erste Tat der Freiheit[+] vollbracht. Der Mythos betont, dass diese Tat Leiden zur Folge hat. Der Mensch, der die Natur transzendiert, der sich von ihr und einem anderen menschlichen Wesen entfremdet, findet sich nackt und schämt sich. Er ist allein und frei, aber machtlos und voller Angst[+]. Die neu gewonnene Freiheit[+] erscheint ihm als Fluch. Er ist frei von der süßen Knechtschaft des Paradieses, aber er besitzt noch nicht die Freiheit[+] zur Selbstbestimmung, seine Individualität zu realisieren.

"Freiheit[+] von" ist nicht das gleiche wie positive Freiheit[+], nämlich "Freiheit[+] zu". Das Auftauchen des Menschen aus der Natur ist ein sich lange hinziehender Prozess. Der Mensch bleibt großenteils an jene Welt gebunden, aus der er auftauchte; er bleibt ein Teil der Natur: von der Erde, auf der er lebt, von Sonne, Mond und Sternen, von Bäumen, Blumen und Tieren und von der Gruppe von Menschen, mit der er durch die Blutsbande verbunden ist. Die primitiven Religionen bezeugen dieses menschliche Gefühl des Einsseins mit der Natur. Die belebte und die unbelebte Natur sind Teil Bild des Menschen, oder - wie man auch sagen könnte - er ist noch immer ein Teil der Welt der Natur.

Die primären Bindungen des Menschen blockieren seine volle Entfaltung. Sie stehen der Entwicklung seiner Vernunft[+] und seinen kritischen Fähigkeiten im Wege; sie machen, dass er sich und die anderen nur durch das Medium seiner beziehungsweise ihrer Zugehörigkeit zu einer Sippe, einer sozialen oder religiösen Gemeinschaft, und nicht als menschliches Wesen erlebt; mit anderen Worten: sie blockieren seine Entwicklung zu einem freien, über sich selbst bestimmenden, produktiven Individuum.

Das ist der eine Aspekt, aber es gibt noch einen anderen.

Diese Identität mit der Natur, der Sippe, der Religion gibt dem einzelnen auch Sicherheit. Er gehört zu einem strukturierten Ganzen, er ist darin verwurzelt und hat darin seinen Platz, ihm niemand streitig macht. Er kann durch Hunger oder Unterdrückung leiden, aber er leidet nicht an dem Allerschmerzlichsten - an völliger Einsamkeit und Zweifel.

Wir sehen, dass der Prozess wachsender[+] menschlicher Freiheit[+] den gleichen dialektischen Charakter besitzt, den wir beim Prozess des individuellen Wachstums[+] beobachten konnten. Auf der einen Seite handelt es sich um einen Prozess der zunehmenden Stärke und Integration, der Meisterung der Natur und der zunehmenden Beherrschung der menschlichen Vernunft[+], der wachsenden[+] Solidarität mit anderen Menschen. Zum anderen aber bedeutet diese wachsende[+] Individuation auch zunehmende Isolierung, Unsicherheit und, hierdurch bedingt, zunehmenden Zweifel an der eigenen Rolle im Universum, am Sinn des eigenen Lebens und, durch das alles bedingt, ein wachsendes[+] Gefühl der eigenen Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit als Individuum.

Wenn der Prozess der Entwicklung der Menschheit harmonisch verlaufen wäre, wenn er nach einem bestimmten Plan abgelaufen wäre, so wären beide Seiten der Entwicklung - die wachsende[+] Stärke und die wachsende[+] Individuation - genau gegeneinander abgewogen. So aber ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Konflikte und Kämpfe. Jeder Schritt in Richtung einer wachsenden[+] Individuation hat die Menschheit mit neuen Unsicherheiten bedroht. Einmal gelöste primäre Bindungen können nicht mehr geflickt werden; in einmal verlassenes Paradies kann der Mensch nicht zurückkehren. Es gibt nur eine einzige produktive Lösung für die Beziehung des Menschen zur Welt: seine aktive Solidarität mit allen Mitmenschen und sein spontanes Tätigsein, Liebe und Arbeit[+], die ihn wieder mit der Welt einen, nicht durch primäre Bindungen, sondern als freies, unabhängiges Individuum.

Wenn jedoch die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, von denen der gesamte Prozess der menschlichen Individuation abhängt, keine Grundlage für die Verwirklichung der Individualität im oben beschriebenen Sinn bieten, während die Menschen gleichzeitig die Bindungen verloren haben, die ihnen Sicherheit boten, dann macht dieser leere Raum die Freiheit[+] zu einer unerträglichen Last. Sie werden dann gleichbedeutend mit Zweifel, mit einem Leben ohne Sinn und Richtung. Es entstehen dann machtvolle Tendenzen, vor dieser Art von Freiheit[+] in die Unterwerfung oder in irgendeine Beziehung zu anderen Menschen und der Welt zu fliehen, die eine Milderung der Unsicherheit verspricht, selbst wenn sie den Menschen seiner Freiheit[+] beraubt.

Die europäische und die amerikanische Geschichte seit dem Ende des Mittelalters[+] ist die Geschichte des vollen Auftauchen des Individuums. Es handelt sich um einen Prozess, der in Italien während der Renaissance begonnen hat und der erst jetzt seinen Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Mehr als 400 Jahre waren nötig, um die mittelalterliche Welt niederzureißen und die Menschen von den offenkundigsten Beschränkungen ihrer Freiheit[+] zu erlösen. Aber während das Individuum sich in vieler Hinsicht geistig und emotional weiterentwickelt hat und in einem bisher unerhörten Rahmen kulturelle Leistungen vollbringt, ist die Kluft zwischen der "Freiheit[+] von" und der "Freiheit[+] zu" ebenfalls noch größer geworden. Dieses Missverhältnis zwischen Freiheit[+] von jeder Bindung und dem Mangel an Möglichkeiten[+] zu einer positiven Verwirklichung der Freiheit[+] und Individualität hat in Europa zu einer panikartigen Flucht vor der Freiheit[+] in neue Bindungen oder zum mindesten in eine völlige Gleichgültigkeit geführt.

Erich Fromm stammt aus einer jüdischen Familie, aus der einige Rabbiner hervorgingen. Sein Denken enthält jüdische Philosophie, die ich in diesen Zeiten[+] für wirklich wertvoll halte, weil sie den Bogen zurück an den Ursprung[+] der Veränderungen schlägt, durch die der Zivilisationsprozess einsetzte.

Dies ist wichtig, weil sich bis heute alles aus dem Zinsnehmen entwickelt hat, wie Erich Fromm schreibt, auch das Denken, unsere Vernunft[+], unser Freiheitsbegriff[+] und viele Verhaltensweisen, z.b. das Sparen und überhaupt unsere Rationalitätskultur. In manchen Kreisen hört man deshalb auch Behauptungen, dass der Negativzins irrational, unvernünftig[+] sei und diejenigen, die in fordern dumm. Doch ist all dies sicher nur innerhalb der kapitalistischen Denkweise logisch. Ganzheitlich betrachtet ermöglicht der Negativzins die Rückkehr des Menschen in den Garten Eden, und dies geht einher mit einem Rückgang der Zwänge[+] zum Denken, der Ermöglichung des Fühlens und sich Wiedereinfühlens in die gelösten primären Bindungen. Der Negativzins lässt uns zur Ruhe kommen, zwingt uns nicht weiter zum Fortschritt, gibt uns Zeit[+], unsere Beziehungen zur Natur wieder mit Verwunderung, Demut und Respekt vor der Schöpfung zu gestalten.

Wir müssen uns ändern, und wir werden uns ändern.

Weitere seelische Folgen des Zinsnehmens: die Entstehung des Homo-Oeconomicus

Das Modell Riemanns und Thomanns, das im Wesentlichen eine populärwissenschaftliche Darstellung der klassischen Neurosenlehre ist, ist aufgrund der angewandten Systematik, der Auffassung von Ängsten[+] in Dichotomien, ähnlich Differenzen oder Distinktionen, an sozial-psychologische Theorien anschlussfähig.

Wie tiefgreifend die seelischen Veränderungen sind, die das Zinsnehmen in uns verursacht hat, wird auch anderen wohlbekannten Phänomenen deutlich.

Jemandem die (Zins-) Schuld zuzuschreiben, von ihm zu fordern und jemanden zwingen ist Ein und das Selbe. Die Zinsschulden werden gegenüber der Umwelt des Systems erhoben. So beherrscht das System die Schöpfung, denn die Schöpfung ist in der Umwelt des Systems und sein Wachstumsquell[+]. Die Urform[+] dieses Bildes ist der Mann, der seinen Samen (das Leihkapital) in die Frau hinein gibt und ein Kind erhält. Die alten Kulturen bringen den Zins namentlich unmittelbar mit der Schöpfung in Verbindung. Bei den Griechen ist das Wort tokos doppeldeutig. Es bedeutet Zins und Wehentätigkeit. Die alten Ägypter haben die Silbe ms die Zins und 'Leben Geben' bedeutet. Die Sumerer haben das Wort mash, das Zins und junges Rind bedeutet, Quelle: F.A.Z.[+]. Und das Ganze, dieser perverse Akt der Fortpflanzung des Kapitals, ist schambesetzt. Man redet nicht über das Geld und den Zins!

Ist der Zins nun die Ursache[+], die Sache von Ur? Solange die Maschinen den Kapitalismus[+] nicht steuern (tun sie das nicht schon seit Langem, siehe Aladdin?) ist es natürlich immer nur der Mensch, der handelt. Insofern ist der Mensch Letzt- und Erstursache.

Das Prinzip des Zinses ist eben eine sehr verführerische Frucht, deren Genuss die über all zu beobachtenden Folgen hat, aber das gilt für den Negativzins übrigens genauso. Am Grab des Kapitalismus[+] ist der Leichenschmaus der Verzehr des Kapitals durch die Arbeit[+]. Das Ergebnis ist die Befreiung des Lebens von dieser tödlichen Seuche, diesem Virus, von dem der Zivilisationsmensch besessen ist.

Die psycho- und soziopathologischen Formen des Liberalismus und des Konservatismus

Die Kritik Fromms am Freiheitsbegriff[+] deckt sich mit Fritz Riemanns Beschreibung des Persönlichkeitstypus des Schizoiden, der eine rücksichtslose und unempathische, von anderen Lebewesen losgelöste Freiheit[+] lebt und propagiert und die pathologische Form des Liberalismus[+] verkörpert.

Eine bis zum obigen Abschnitt in Fromms Werk noch nicht beschriebene Grundangst in Riemanns Modell[+] ist die Angst[+] vor der Vergänglichkeit, vor dem Zerfall und der Unkontrollierbarkeit und Spontanität sozialer Beziehungen, in denen beidseitige Freiheit[+], also doppelte Kontingenz[+], herrscht. Den Persönlichkeitstypus, dessen Seele überwiegend in diese Kiste passt, nennt Riemann den Zwanghaften.

Wie die Verwendung des Wortes Transzendenz nahelegt, übersteigt (lat. transcendere) der Zivilisationsmensch die Natur, indem er sie beherrscht, bzw. „meistert” in Fromms Worten. Die Versuch der Übersteigung des naturgesetzlichen[+] Rahmens, in dem sich der Mensch eigentlich immer bewegen muss, weil er unvermeidbar Natur ist (und nicht Maschine!), - und es kann eben nur ein Versuch, ein Experiment, sein - beginnt mit der Umkehrung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik[+], der letzlich nur den Negativzins der Natur beschreibt.

Wenn doch alle Materie dem zweiten Hauptsatz, also dem Gesetz des Zerfalls, dem „Sterbenmüssen” unterworfen ist, was ist dann dieses „Innere”, das sich dem Zerfall anscheinend widersetzt? Ist es nicht Teil des göttlichen Lichts oder Funkens in uns, dieser Paradoxie, dieses Wunders des Lebens, das die „Frechheit”, den Mut und den Willen hat, sich dem Sterben zu widersetzen? Ist nicht dieses Innere das Kind in uns, das, was die gnostischen Mystiker und einige Ultra-Religiöse Jesus Christus zuschreiben, diesem Teil der Seele, der in jedem Lebewesen ist?

Diejenigen, die Angst[+] vor dem Sterben haben, das Gesetz des Zerfalls fürchten, also den Negativzins der Natur, und dieses Naturgesetz[+] für sich und andere umkehren und dafür die anderen sterben lassen, von ihnen das Leben bzw. den Zins nehmen (Leben erwächst[+] aus Arbeitskraft[+]!) weil sie erhoffen, sich so das eigene Leben verlängern zu können, wie gehen die mit diesem Inneren um?

Sie verwechseln das Kleid, das sie sich zugelegt haben, ihr Eigentum[+], um ihre Scham und Blöße, ihr Menschsein und ihre Natur zu verstecken, mit den primären Bindungen. Die pathologische Form des Konservatismus[+], der Erhalt des Kapitals, ist die seelische Krankheit, die versucht, das Gesetz des Zerfalls umzukehren. Es ist der verzweifelte Versuch, das besagte Innere, die verletzliche Seele vor der als gefährlich empfundenen Umwelt zu schützen. Die Umwelt wird als feindselig und lebensfeindlich empfunden, weil nicht verstanden wird, wieviel der Feindselig- und Lebensfeindlichkeit vom Zinsnehmen, also der Angst[+] vor der Vergänglichkeit verursacht wird.

Hier sagt es Charles Eisenstein. Er spricht im Zusammenhang mit der Freiheit[+] und der Losgelöstheit von den primären Bindungen vom „abgetrennten Selbst“ (separate self). Der ganze Zivilisationsprozess ist betrieben durch das Zinsnehmen.

Beide zusammengenommen, also der S-Typ[+] und der Z-Typ[+], bilden den Homo-Oeconomicus, ein Wesenstyp, der perfekt an das Überleben im Kapitalismus[+] angepasst sind, ein Sozio- und Psychopath.

Denken ist ein Stresssymptom[+], eine seelische Handlung zur Abwehr von Not. Die Wortherkunft von Vernunft, die etwas von Aufkommen und Emergenz[+] von Bewusstsein oder Bewusstwerdung hat, wie das Wort Vernahme oder Vernehmung, deuten darauf hin, dass in „vernünftigen[+] Menschen” eine spezielle Art von seelischem Zustand herrscht. Ich bin der Auffassung, dass dieser Zustand des Denkenden und Vernünftigen grundsätzlich „gestresst” ist und dass das Phänomen des Denkens eine Not oder Knappheit wie Hunger, Durst oder irgendein existenzielles Unbefriedigtsein abwehren soll. Der Mensch schafft sich selbst mit dem Zinsnehmen Knappheit, und die daraus resultierenden Nöte zwingen sein Bewusstsein zum Auffinden von Notwendigkeiten, diese Suche nach Lösungen ist das Denken und das so Vernommene ist vernünftig[+].

Die gesunden Formen des Liberalismus[+] und des Konservatismus[+] sind den obigen Darstellungen der psycho- und sozio-pathologischen Handlungs- und Auffassungweisen zufolge die Befürwortung der Freiheit[+] des Menschen innerhalb der naturgesetztlichen Grenzen und der Schutz und Erhalt der Schöpfung, also das Prinzip der Nachhaltigkeit. Nicht das geltende Tote[+] ist zu schützen, sondern das Leben!

Der Sündenfall ist die Entdeckung des Zinses durch den Menschen

In "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung[+]" von 1912 schreibt Joseph Schumpeter[+], dass der positive Zins der Wesenskern des Kapitalismus ist. Infolge dieser Einordnung, die viele andere mit mir teilen, ist der Kapitalismus[+] in Wahrheit zwischen 6.000 und 13.000 Jahre alt.

Denn nicht nur Geldzinsen sind Zinsen, sondern auch Mietzinsen[+] und Pachtzinsen[+]. Das Zinsnehmen basiert auf der Trennung von Eigentum[+] und Besitz[+]. Der Eigentümer[+] fordert Zinsen vom Besitzer[+]. Eigentum[+] ist ein Begriff, eine seelische Form, die wahrscheinlich unmittelbar vor der Entdeckung des Zinsnehmens entstand. Menschen unterschieden Güter im Gemeintum und im Eigentum[+]. Menschen schrieben sich Land zu, unterschieden es also vom Gemeintum, betrachteten es als ihr Eigentum[+] und verlangt von anderen darauf lebenden Menschen, dass sie für die Nutzung und den Besitz[+] Zinsen zahlen. Das gleiche Prinzip gab es beim Verleih von Lebensmitteln und später natürlich beim Geld. Das Prinzip des Zehnts und des Zinses sind identisch: Da sitzen Bauern (Besitzer[+], Pächter, Mieter) auf dem Land des Königs (Eigentümer[+], Landherren, Vermieter) und zahlen dafür Steuern. Das alte Wort für Steuer ist Zins, Wortherkunft Zins!

Wenn man sich mit der Kulturgeschichte des Kapitalismus[+] beschäftigen will, dann kann man Ulrich Duchrows Gieriges Geld (pdf)lesen.

Ende der Bezahlwand

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Querverweise auf 'Erich Fromms Kritik am Freiheitsbegriff des Zivilisationsmenschen'

Tim Deutschmann

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