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17. September 2019

Erich Fromm zu Selbst, Pseudo-Selbst, kollektiver Hypnose und Suggestion; Einpflanzung von Urteilen a priori, Framing

Ich lese gerade "Die Furcht vor der Freiheit" (1941) von Erich Fromm und finde darin "wieder nur" Bekanntes in anderer sprachlicher Darstellung. Es ist wirklich erstaunlich, wie sich alles zusammenfügt zu diesem Gebäude. Ich finde jetzt immer mehr Parallelen zwischen den Aussagen von Angehörigen aller Disziplinen, egal ob es Psychologen, Soziologen oder Philosophen sind.

Wer kennt die These vom Sozialkonstruktivismus? Sie besagt in etwa, dass kollektive Wahrheit das Produkt des Ringens sozialer Gruppen um die Deutungshoheit ist. Was wahr ist, ist also auch eine Machtfrage.

Beginn der Bezahlwand

Voltaire sagt:

„Je öfter eine Dummheit wiederholt wird, desto mehr bekommt sie den Anschein der Klugheit.“
Wenn man sich nun vor Augen führt, dass alle Arten von Medien - nämlich: Bücher, Zeitschriften[+], Internet, Fernsehen, Radio - wie es ihr Name schon sagt, vermitteln zwischen den Wirklichkeiten gesellschaftlicher Gruppen, also das Bewusstsein erweitern, dann sollte es einen normalen Menschen doch sehr wohl interessieren, wer die Eigentümer[+] von Medien sind und welche Interessen diese Eigentümer[+] mit der Verfügbarmachung dieser Medien verfolgen.

Es sollte einen auch stutzig machen, dass so viele Medien kostenlos sind. Wenn doch alles auf Leistung und Gegenleistung beruht, welchen Preis zahlen wir, wenn wir kostenlose Medien konsumieren? Ist es nicht so, dass wir über Medien indoktriniert und suggestiv[+] unterhalb der Wahrnehmungsschwelle manipuliert werden (können) zu einem bestimmten Konsumverhalten oder zum stillen Einverständnis mit bestimmten Merkmalen unserer Privatrechtsordnung, z.b. arbeitsrechtliche Bestimmungen betreffend?

Es wird doch in allen diesen Medien immer etwas transportiert, das das Unterbewusstsein des Rezipienten in eine bestimmte Richtung lenken soll. Natürlich hat Voltaire Recht[+] damit, dass man die vermeintliche Wahrheit regelrecht in das Bewusstsein der Konsumenten der Massenmedien einhämmern kann, wenn die entsprechenden Aussagen nur permanent wiederholt werden und man die entsprechende Reichweite hat.

Wie vielen Familien gehören noch einmal die größten deutschsprachigen Medien in der BRD? Sind es nicht weniger als ein Dutzend?

Kant spricht in Kritik der reinen Vernunft von "Urteilen[+] a priori", Fromm von einer Art kollektiven Hypnose[+], die auf Gedanken- und Gefühlseingebung durch Suggestion basiert und Elisabeth Wehling nennt es Framing[+]. Wenn ich Fromm hernehme, dann sind seine Aussagen gar nicht weit davon entfernt, das Phänomen der "Aluhüte" und der anderen Realitätsverweigerer zu erklären.

Die Menschen haben einfach keine Ahnung, was mit ihnen geschieht, denken nicht selbstständig über Wesentliches nach und machen darüber auch nicht den Mund auf. Rainer Mausfeld nennt es „Das Schweigen der Lämmer”. Wie ich am 16.02.2018 schrieb, hat auch Joseph Schumpeter[+] 1942 in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie[+] dieses "Zombie-Phänomen" beschrieben und beklagt, dass die Menschen in Bezug auf bestimmte Dinge unmündig sind und unfähig, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.

Das Gegenstück zu einem schwachen, oberflächlichen Pseudo-Selbst: das resiliente Selbst.

Ich selbst erkläre mir das Zombie-Phänomen mit bewusster Manipulation und der Verbreitung von Lügen und Falschnachrichten, die in der Folge den selbstständig Denkenden verunsichern und dann noch mit unserer über hunderttausende Jahre verlaufenen Entwicklung durch Evolution[+], die uns jedoch nicht dazu befähigte, das übernatürliche Phänomen, das aus der Umkehrung eines, wenn nicht des für das Leben bedeutendsten Naturgesetzes[+], nämlich des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik, der im Wesentlichen den Negativzins der Natur beschreibt (nichts Totes wächst[+] von allein und pflanzt sich fort, wie es das Geld tut), resultiert zu erkennen.

In Die Furcht vor der Freiheit schreibt Erich Fromm:

Wir stehen hier vor einem der wichtigsten Probleme der Psychologie, dem wir vielleicht am einfachsten auf die Spur kommen, wenn wir zunächst eine Reihe von Fragen stellen. Was ist das Selbst? Was macht das Wesen jener Handlungen aus, die uns nur die Illusion vermitteln, sie seien unsere ureigensten Handlungen? Was ist Spontanität? Was ist ein ursprünglicher geistiger Akt? Und endlich: Was hat all das mit der Freiheit[+] zu tun?

Wir wollen in diesem Kapitel zu zeigen versuchen, wie uns Gefühle und Gedanken von außen eingeflößt werden können, wie wir sie trotzdem subjektiv als unsere eigenen erfahren, und wie wir dabei unsere eigenen Gefühle und Gedanken verdrängen, so dass sie aufhören ein Teil unseres Selbst zu sein.

[...]

Was beweist das hypnotische - und allem das posthypnotische Experiment? Es beweist, dass wir Gedanken, Gefühle, Wünsche, ja sogar Sinnesempfindungen haben können, die wir subjektiv als unsere empfinden, obwohl sie uns von außen suggeriert werden und uns daher im Grund fremd sind und nicht das, was wir wirklich denken, fühlen und so weiter.

[...]

Wir sind zunächst vom hypnotischen Experiment gegangen, weil dieses auf unmissverständliche Weise zeigt, dass man von der Spontanität seiner geistigen Aktie überzeugt sein kann und sie trotzdem unter bestimmten Bedingungen von einer anderen Person suggeriert sein können. Wir finden aber dieses Phänomen keineswegs nur in der hypnotischen Situation. Dass die Inhalte unseres Denkens, Fühlens und Wollens uns von außen eingegeben werden und nicht genuin die unseren sind, ist so häufig, dass man den Eindruck bekommt, diese Pseudo-Akte seien die Regel und genuine oder angeborene geistige Akte seien die Ausnahme.

[...]

Die gleiche Erscheinung können wir beobachten, wenn wir die Leute nach ihrer Meinung über gewisse andere Themen, z.B. in der Politik fragen. Man frage einmal einen durchschnittlichen Zeitungsleser[+], wie er über ein bestimmtes politisches Problem denke. Er wird uns dann einen mehr oder weniger exakten Bericht über das, was er gelesen hat, als "seine" Meinung hinstellen und trotzdem - und das ist der springende Punkt - der Überzeugung sein, das von ihm Vorgebrachte sei das Ergebnis seines eigenen Nachdenkens. Wenn er in einer kleinen Gemeinschaft lebt, wo politische Meinungen vom Vater auf den Sohn weitergegeben werden, kann "seine eigene" Meinung weit mehr, als er es auch nur einen Augenblick für möglich halten würde, von der immer noch vorhandenen Autorität eines strengen Vaters geprägt sein. Die Meinung eines anderen Lesers kann einer augenblicklichen Verlegenheit entspringen, der Angst[+], man könne ihn für schlecht informiert halten, weshalb seine "Ansicht" im Wesentlichen Theater ist und nicht das Ergebnis einer natürlichen Kombination von Erfahrung, Wünschen und Wissen.

[...]

Die Unterdrückung kritischen Denkens beginnt meist schon frühzeitig.

[...]

Das Pseudo-Denken kann auch völlig logisch und rational sein. Sein Pseudo-Charakter äußert sich nicht unbedingt darin, dass es unlogisch ist. Man kann das an Rationalisierungen studieren, die sich bemühen, eine Handlung oder ein Gefühl mit rationalen und realistischen Beweggründen zu erklären, obwohl sie in Wirklichkeit von irrationalen und subjektiven Faktoren determiniert waren. Die Rationalisierung kann zwar auch im Widerspruch zu den Tatsachen oder zu den Regeln logischen Denkens stehen, häufig aber wird sie selbst logisch und rational sein. Ihre Irrationalität liegt dann darin, dass sie nicht das wirkliche Motiv für die Handlung darstellt, deren Ursache[+] sie angeblich war.

[...]

Es lässt sich daher nicht feststellen, ob wir es mit einer Rationalisierung zu tun haben, wenn wir lediglich untersuchen, ob eine Behauptung logisch ist; wir müssen auch die psychologischen Motivationen mitberücksichtigen, die in einem Menschen am Werk sind. Entscheidend ist nicht, was der Betreffende denkt, sondern wie er denkt. Ein dem eigenen aktiven Denken entspringender Gedanke ist stets neu und originell; originell nicht unbedingt in dem Sinn, dass ihn nicht andere schon zuvor gedacht hätten, jedoch stets in dem Sinn, das derjenige, der denkt, sein Denken als Werkzeug benutzt, um etwas Neues in der Außenwelt oder in sich selbst zu entdecken. Den Rationalisierungen fehlt ihrem ganzen Wesen nach dieses Entdecken und Enthüllen; sie bestätigen lediglich unsere emotionalen Vorurteile. Die Rationalisierungen sind kein geeignetes Mittel[+], zur Wirklichkeit vorzustoßen, sondern nur post factum [wir leben in der „post-faktischen” Gesellschaft] ein Versuch, die eigenen Wünsche mit der vorhandenen Wirklichkeit in Einklang zu bringen.

Man muss beim Fühlen genau wie beim Denken zwischen einem echten Gefühl, das aus uns selbst kommt, und einem Pseudo-Gefühl unterscheiden, das in Wirklichkeit nicht unser eigenes ist, auch wenn wir es dafür halten.

[...]

Was für das Denken und Fühlen gilt, das gilt auch für das Wollen. Die meisten Menschen sind überzeugt, dass ihre Entschlüsse die ihren sind und dass es sich um ihr eigenes Wollen handelt, wenn sie etwas wollen, solange sie nicht von einer äußeren Macht offen zu etwas gezwungen werden. Es gehört zu den großen Illusionen, die wir uns über uns selber machen. Sehr viele unserer Entschlüsse sind nicht wirklich unsere Entscheidungen, sondern sie werden uns von außen suggeriert. Wir bringen es fertig, uns einzureden, es handele sich um unsere eigenen Entscheidungen, aber in Wirklichkeit verhalten wir uns so, wie es die anderen von uns erwarten, und das tun wir aus Angst[+] vor der Isolierung und weil wir unser Leben, unsere Freiheit[+] und unsere Behaglichkeit unmittelbar bedroht fühlen.

[...]

Wir könnten noch viele Beispiele aus dem täglichen Leben anführen, wo Menschen scheinbar ihre Entscheidungen treffen und etwas Bestimmtes wollen, in Wirklichkeit aber einem inneren oder äußeren Druck nachgeben, wonach sie das zu wollen haben, was sie dann auch tun. Wenn man sieht, wie die Menschen ihre Entscheidungen treffen, ist man geradezu verblüfft darüber, wie häufig sie irrtümlicherweise einen eigenen Entschluss zu fassen glauben, während sie sich in Wirklichkeit nur an die Konvention halten oder aus Pflichtgefühl[+] oder ganz einfach unter einem Druck handeln. Es sieht fast so aus, als sei ein "ureigener" Entschluss ein unverhältnismäßig seltenes Phänomen in einer Gesellschaft, die doch angeblich die individuelle Entscheidungsfreiheit zum Eckstein ihrer Existenz gemacht hat.

[...]

Dieser Ersatz der ursprünglichen Akte des Denkens, Fühlens und Wollens durch Pseudo-Akte führt schließlich dazu, dass das ursprüngliche Selbst durch ein Pseudo-Selbst ersetzt wird. Das ursprüngliche Selbst ist der wirkliche Urheber[+] alles geistigen Tätigseins. Das Pseudo-Selbst ist nur ein Stellvertreter, der die Rolle spielt, die man von ihm erwartet, der aber dies im Namen des Selbst tut. [siehe Geldsystem und Persönlichkeitsstrukturen.]

Freilich kann jemand auch viele Rollen spielen und subjektiv überzeugt sein, in jeder dieser Rollen "er" zu sein. Tatsächlich aber ist er in allen diesen Rollen das, wovon er glaubt, dass man es von ihm erwartet, und bei vielen Menschen, wenn nicht gar bei den meisten, wird das ursprüngliche Selbst vom Pseudo-Selbst völlig erstickt. Manchmal kommt in einem Traum, in Fantasien oder wenn der Betreffende betrunken ist etwas von dem ursprünglichen Selbst zum Vorschein - Gefühle und Gedanken, die er jahrelang nicht mehr gehabt hat. Oft handelt es sich um schlimme Dinge, die er verdrängte, weil er Angst[+] davor hatte oder sich ihrer schämte. Manchmal handelt es sich aber auch um das Beste in ihm, das er verdrängt hat, aus Angst[+], man würde ihn auslachen oder angreifen.

( Fußnote: beim psychoanalytischen Verfahren handelt es sich im Wesentlichen um einen Prozess, bei dem der Betreffende sein ursprüngliches Selbst aufzudecken sucht. Unter "freiem Assoziieren" versteht man, dass man seine ursprünglichen Gefühle und Gedanken äußert, dass man die Wahrheit sagt; Wahrheit in diesem Sinne heißt nicht, dass man sagt, was man denkt, sondern dass das Denken ursprünglicher Art ist und nicht Anpassung an das, was andere von einem erwarten. Freud hat besonders betont, dass "schlechte" Dinge verdrängt werden; er scheint nicht genügend erkannt zu haben, in welchem Ausmaß auch die "guten" Dinge der Verdrängung anheim fallen können. )

Der Verlust des Selbst und sein Ersatz durch ein Pseudo-Selbst erzeugt im Menschen einen Zustand intensiver Unsicherheit. Er ist von Zweifeln besessen, weil er gewissermaßen seine Identität verloren hat, weil er im Wesentlichen ein Spiegelbild dessen ist, was andere von ihm erwarten [Chica Plastica]. Um die aus diesem Identitätsverlust entspringende Panik zu überwinden, muss er sich anpassen und seine Identität in der ständigen Billigung und Anerkennung durch andere suchen. Wenn er selbst nicht weiß, wer er ist, werden es vielleicht die anderen wissen, sofern er sich nur ihren Erwartungen entsprechend verhält. [Thomas Mann, Mario und der Zauberer: Wenn jemand empfänglich ist für die Erwartungen und Wünsche der anderen, wird er zur Marionette des kollektiven Willens.] Wenn sie es wissen, wird auch er es wissen, wenn er ihnen nur Glauben schenkt.
Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit[+], DTV 35024, Seite 138ff.
Das Stück "Chica Plastica" (Plastikpuppe) von Rubén Blades.
Wir sind durch das Vorgebete gewisser Ideologien Subjekt einer Art Hypnose! Das, worüber Erich Fromm in "Die Furcht vor der Freiheit" geschrieben hat, beschreibt hier Elisabeth Wehling mit dem Begriff 'Framing[+]'. Bei Kant in 'Kritik der reinen Vernunft' wird das Phänomen als Urteile[+] 'a priori' (Vorurteile) bezeichnet, die sich in die Empfindung und Einordnung der Wahrnehmung einmischen.

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