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Bedürfnisse von Menschenkindern

Ich trage hier einige Aussagen zusammen, die Fritz Riemann an einigen Stellen zu den Bedürfnissen von Menschenkindern gemacht hat[1, S. 40f].

Die Kinder sind nach der Geburt hilflos. Ihre Umwelt muss vertrauenerweckend, annehmbar, altersgemäß und den Bedürfnissen entsprechend sein. Die Atmosphäre muss daher ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Das Kind muss sich aufgehoben und behaglich fühlen und eingebettet sein in ihm angemessene Lebensbedingungen. Unerlässlich sind die Säuglingspflege, emotionale Wärme, Zuwendung, ein angemessenes Maß an Reizen und Ruhe, gewisse Stabilität des Lebensraums und genügend körpernahe Zärtlichkeit. Brust statt Flasche! Wenn das Kind die Flasche bekommt, dann nur von der gleichen Bezugsperson, sonst entstehen komplizierte Lernvorgänge und es bildet sich eine schwachen Mutterbindung.

Zur Entwicklung von Urvertrauen[+] muss das Kind wagen können, Hingabe an das Leben zu riskieren, ohne Angst[+] vor Vernichtung haben zu müssen. Um Freude an seinem Körper zu bekommen, muss man ihn frei betätigen dürfen, eine Bewegungsfreiheit haben, die man lustvoll ausleben darf. Das Kind muss die Möglichkeit[+] haben Ängste[+] mitteilen zu können.

Es benötigt eine gewisse Stabilität der Umgebung, damit sich seine Orientierung ausbilden kann. Es benötigt eine regelmäßige Wiederkehr der Mutter, beglückende Innigkeit beim Stillen, Wiedererkennung von Personen, die Möglichkeit[+] der Ausbildung gerichteter Hoffnung, Dankbarkeit und Liebe gegenüber einer Bezugspersonen. Die empfangene Liebe definiert sein Selbstwertgefühl.

Individuation erfordert und schafft Distanz. Je weniger wir gelernt haben, unser Eigensein, unsere Selbstständigkeit zu entwickeln, umso mehr brauchen wir andere. So stellt sich die Verlustangst heraus als die Kehrseite der Ich-Schwäche. Das Ausweichen vor der Individuation gibt keine Sicherheit vor Verlustängsten. Schöpferische Distanz ermöglicht Individuation in der Beziehung.

Affekte und Aggressionen, die man nicht äußern kann oder darf, die somit kein Ventil finden, werden nicht nur äußerst quälend; sie führen auch zu einer allgemeinen Antriebsschwäche bis zur Passivität und Indolenz, die gleichzeitig Folge der gehemmten Aggressivität sind, sekundär wieder zu deren erneute Hemmung werden. Hass, Wut und Neid sind auch im Leben des Kindes unvermeidbar, werden aber erst dann gefährlich, wenn sie sich ihnen aufstauen und zum Hintergrund von Depressionen[+] werden. Ohnmächtige Wut, frustrierte Aggressionen, Hass - und Neidgefühle, die wir unterdrücken müssen, machen uns auch im späteren Leben noch depressiv[+], »niedergeschlagen« - wie viel mehr als Kind, wenn wir sie wegen unserer Abhängigkeit und Hilflosigkeit nicht zulassen dürfen.

Erst wenn das Kind seine Affekte und seine Aggressivität äußern durfte, kann es lernen, mit ihnen umzugehen, sie je nach der Situation angemessen einzusetzen oder auf sie zu verzichten. Wenn ein Kind auffallend still und brav ist, wenn es sich langweilt und mit der Welt nichts anfangen kann, wenn es keine Initiative zeigt und zu jeder Aktivität angeregt werden muss, wenn es eine unendliche Neigung zu Antriebslosigkeit hat, wenn es sich nicht allein beschäftigen kann und auch Alleingelassenwerden überwertig reagiert, sind das Anzeichen einer beginnenden Depressivität, auf die man achten sollte.

Die reife Form der Aggressionsverarbeitung kann man nur dadurch erwerben, dass man Erfahrungen mit der eigenen Aggression macht. Die gesunde und gekonnte Aggressivität ist ein wesentlicher Bestandteil für die Würde unserer Persönlichkeit und für einen gesunden Stolz.

Im Unterschied zur Frühstphase, in der das Kind ganz allmählich begann, seine Umwelt bewusst wahrzunehmen, hat es nun schon die Mutter als die Quelle aller Bedürfnisbefriedigung in erkannt, wofür ihre regelmäßige und verlässliche Wiederkehr entscheidend wichtig ist. Das Kleinkind bildet für längere Zeit[+] mit der Mutter ein Wir, wie das Kühnke einmal formuliert hat. Mutter und Kind leben in einer Symbiose, bilden so weitgehend einer Einheit, dass das Kind nur allmählich beginnt, sich von der Mutter zu unterscheiden. Zunächst ist die trennende Grenze zwischen ihm und der Mutter für sein Bewusstsein noch nicht vorhanden. In dem Maße wie es nun die Mutter als etwas außerhalb von ihm Seiendes begreift und zugleich erkennt, dass von ihr alle Befriedigung und Beglückung kommt, erkennt es auch seine Abhängigkeit von ihr. Es braucht die Mutter und ist voller Angst[+], wenn sie sich entfernt. Es ist ganz auf die angewiesen und auf sie ausgerichtet, sie ist sein wichtigster Bezugspunkt. Das Kind nimmt ihr Bild und ihr Wesen mit allen Sinnen in sich auf. Durch die lange Dauer einer totalen Abhängigkeit von der Mutter prägt sich ihr Bild tief in seiner Seele ein. So wird die Mutter verinnerlicht, wird zu einem ungemein wichtigen Seelenbestandteil des Kindes: wie es die Mutter in ihrer Einstellung zu sich erlebt hat, das ergibt die Grundlagen dafür, wie es auch später im Tiefsten zu sich selbst steht.

Das innen sich abbildende, wie die Psychoanalyse sagt »introjizierte« oder »inkorporierte« Mutterbild, die individuelle Muttererfahrung, spiegelt sich später in unserer Einstellung zu uns selbst. Wer das Glück hatte, eine liebende Mutter in sich abbilden zu können, hält sich zutiefst für liebenswert; wer das Unglück hatte, eine harte und ablehnende Mutter in sich abbilden zu müssen, hält sich zutiefst für nicht liebenswert und wird daher lange Zeit[+] und viele neue Erfahrungen brauchen, um glauben zu können, dass auch er liebenswert ist. So liegt in einer geglückten Muttererfahrung ein Kapital, das man gar nicht so hoch genug einschätzen kann.

Bei einer guten Mutterbeziehung besteht ein Verhältnis wechselseitigen Gebens und Nehmens, das von Mutter und Kind als beglückend empfunden wird. Echohaft spiegelt das Kind, was ihm entgegengebracht wird; es beantwortet das Lächeln der Mutter mit Lächeln, und später ruft sein Lächeln das Lächeln der Mutter hervor. Es besteht eine innige Verbundenheit, eine erratendes Verstehen zwischen beiden, das zum Beglückendsten gehört, was das Leben gewähren kann, und wir können verstehen, dass sich hier die ersten Ansätze von Dankbarkeit, Hoffnung und liebender Zuneigung bilden. Noch ist das Kind in der kurzen Paradieszeit seines Lebens, in der nichts von ihm gefordert wird, in der seine Bedürfnisse erraten und befriedigt werden und es sein Dasein mit Lust und Behagen erlebt - erleben sollte. Was also vor allem neu ist in dieser zweiten Phase der frühkindlichen Entwicklung, ist die nun erkannte Abhängigkeit von einem Menschen und zugleich das Erwachende Bedürfnis nach vertrauter Nähe zu ihm, üblicherweise zu Mutter.

Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Mutter dem Kind diese Möglichkeiten[+] bietet, damit es in die Lage kommt, einen Menschen »in sein Herz zu schließen«. Das Bild der Mutter und ihres Wesens bildet sich dem Kinde zugleich als seine ersten Eindrücke von Menschen, vom Menschlichen überhaupt, ein. Ob es hier erstmals Zuneigung oder Ablehnung erfährt, sich als geliebt oder ungeliebt erlebt, hängt davon ab, wie die Mutter es anblickt, anfasst, behandelt und mit ihm umgeht, wobei die Sensibilität und Beeindruckbarkeit des Kindes schon auf feinste Eindrücke reagiert. Sein Verhältnis zu sich selbst wird hier grundlegend »eingespurt« und ergibt die tiefste Basis für sein Selbstwertgefühl - »wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück«.
S. 86 ff

Das Kind hat keine Vergleichsmöglichkeit. Seine Eltern erscheinen dem Kind als normal und absolut. Es ist unfähig zur Hinterfragung der Eltern.

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Querverweise auf 'Bedürfnisse von Menschenkindern'

Tim Deutschmann

USt-IdNr.: DE342866832

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