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Der Urzins nach Ludwig von Mises

aus Nationalökonomie[+]. Theorie des Handelns und Wirtschaftens (1940), Seite 476 - 483.

Man spart nicht, weil Zins besteht. Der Zins ist nicht die Ursache[+] des Sparens, sondern das Wertverhältnis, das im Sparen hervortritt und den Umfang des Sparens bestimmt. Unter Verhältnissen, in denen die Vorsorge für die Zukunft in nichts anderem bestehen kann als im einfachen Nichtverzehren eines Teiles der genussreifen Güter und deren Aufbewahrung für späteren Verbrauch, ist der Zins in der verschiedenen Rangstellung gegeben, die man der Befriedigung gegenwärtiger und künftiger Bedürfnisse zuerkennt. Ehe man an das Sparen schreitet, durch das für künftige Bedürfnisse vorgesorgt wird, werden heutige Bedürfnisse befriedigt, die man jenen künftigen Bedürfnissen nur darum vorzieht, weil sie heutige Bedürfnisse sind.

[...]

Der ursprüngliche Zins oder Urzins[+] ist kein Preis und wird nicht auf dem Markte durch Zusammenwirken einer Nachfrage nach und eines Angebots von Kapital oder Kapitalgütern gebildet. Er tritt auf dem Markte in der Preisbildung[+] aller Güter und Dienstleistungen in verschiedener Bewertung gegenwärtiger und künftiger Güter und Dienstleistungen zutage. Er ist im Gedankenbild der gleichmäßigen Wirtschaft durch den Betrag gegeben, um den die Summe der Preise der komplementären Güter hinter dem Preise der entsprechenden Genussgüter zurückbleibt. Auf dem Darlehensmarkte (Kapitalmarkt und Geldmarkt) erfolgt nicht die Bildung des Urzinses[+], sondern die Anpassung des Zinses von in Geld gegebenen und empfangenen Darlehen an den durch die Preisbildung[+] des Marktes, auf dem Güter und Dienstleistungen ausgetauscht werden, gebildeten Satz des Urzinses[+].

Der Urzins[+] ist von der Menge des Angebots an Kapitalgütern unabhängig. Er ist es vielmehr, der Kapitalangebot und Kapitalnachfrage bildet. Durch den Urzins[+] wird bestimmt, wie viel von dem verfügbaren Gütervorrat für den Verbrauch in der Gegenwart und wieviel für die Vorsorge für die Zukunft gewidmet wird.

Der Urzins[+] kann aus dem menschlichen Werten und Handeln nicht verschwinden. Wenn eine Lage der Dinge wiederkehren würde, wie sie am Ende des ersten christlichen Jahrtausends bestand, als der Glaube an das unmittelbare Bevorstehen des Endes aller irdischen Belange allgemein war, dann würde, dem Gebote der Bergpredigt gemäß, alle Vorsorge für die irdische Zukunft aufhören. Die Produktionsmittel würden jede Bedeutung verlieren; sie würden als nutzlos und wertlos angesehen werden. Das Agio der gegenwärtigen Güter gegenüber den künftigen Gütern würde damit nicht verschwinden; es würde über alles Maß hinauswachsen[+]. Würde dagegen der Urzins[+] ganz verschwinden, dann würde das bedeuten, dass für die Deckung gegenwärtigen Bedarfs, des Bedarfs des nächsten Augenblicks und des Bedarfs in absehbarer Zukunft nicht gesorgt wird, dass man immerfort nur für die fernste Zukunft produzieren will und dass man einem Apfel, den man heute oder morgen, in einem Jahre oder in zehn Jahren verzehren kann, zwei Äpfel, die erst in tausend oder zehntausend Jahren genussreif sein werden, vorzieht. Der Urzins[+] ist eine elementare Werterscheinung, die man aus dem menschlichen Wirtschaften nicht fortdenken kann. Er ist daher auch nicht an die Organisationsform der gesellschaftlichen Kooperation geknüpft. Er ist im Handeln eines isolierten Wirts oder eines sozialistischen[+] Gemeinwesens ebenso wirksam wie in der Marktwirtschaft[+] der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung.

[...]

Solange die Welt nicht zum Schlaraffenland geworden ist und die Menschen daher handeln und wirtschaften, wird man immer zwischen Befriedigung in näherer und der in fernerer Zukunft zu wählen haben, weil weder für diese noch für jene volle Befriedigung erzielt werden kann. Wenn wir annehmen, dass durch Änderung in der Verwendung der Produktionsmittel, die Produktionsmittel aus einer Verwendung, in der sie der Versorgung näherer Zukunft dienen, in eine Verwendung leitet, in der sie der Versorgung fernerer Zukunft dienen, keine weitere Verbesserung der späteren Versorgung erzielt werden kann, verwickeln wir uns in unlösbare Widersprüche. Wir vermögen zwar immerhin einen Zustand zu denken, in dem das technologische Wissen und Können an einem Punkte angelangt ist, über den hinaus es nicht mehr weitergehen kann; die Technologie ist ans Ende ihrer Leistungsfähigkeit gelangt und wird keine Verfahren mehr entdecken, die die Ergiebigkeit der Produktion zu steigern vermögen. Wir dürfen aber, solange wir an der Annahme festhalten, dass die Güter knapp sind und daher bewirtschaftet werden müssen, nicht annehmen, dass alle Verfahren, die - vom Zeitmoment[+] abgesehen - ergiebiger sind, auch voll ausgenützt werden und dass kein Verfahren, das weniger ergiebig ist, nur darum beibehalten wird, weil es in kürzerer Zeit[+] zur Befriedigung führt als das ergiebigere. Dass die Güter knapp sind, bedeutet doch nichts anderes als das, dass man noch immer Pläne zu fassen vermag, deren - im Hinblick auf den Stand der verfügbaren Mittel[+] undurchführbare - Verwirklichung eine weitere Verbesserung des Standes der Bedürfnisbefriedigung bringen würde. Darin, dass solche wünschbare Verbesserung nicht ausführbar ist, besteht die Knappheit der Mittel[+]. Der Gedankengang der modernen Anhänger der Produktivitätstheorie wird da durch den Böhm-Bawerk'schen Ausdruck «Produktionsumwege» und die durch diesen Ausdruck ausgelösten Vorstellungen von Vervollkommnung unseres technologischen Könnens irregeleitet. Solange wir an dem Gedanken der Knappheit der Mittel[+] festhalten, vermögen wir nicht anzunehmen, dass die Möglichkeit[+], die Erzeugung der Genussgüter durch weitere Verlängerung der Produktionszeit zu erhöhen, nicht besteht. Denn das würde bedeuten, dass man nicht mehr imstande wäre, auch bei unverändertem Stande des technologischen Wissens und Könnens, Pläne zu fassen, die durch eine andere Verwendung der verfügbaren Güter uns zu Befriedigungen führen würden, auf die wir nur darum verzichtet haben, weil der Weg, der zu ihnen führt, zu weit ist und dringendere Ziele vorerst befriedigt werden sollen. Wenn die Mittel[+] knapp sind, gibt es unbefriedigte Wünsche sowohl in Bezug auf die gegenwärtige als auch in Bezug auf die spätere Versorgung. Dass für die Zukunft nicht reichlicher vorgesorgt wird, ist das Ergebnis des Vergleichs zwischen der Dringlichkeit der Befriedigung in Gegenwart und Zukunft, ist mithin Urzinsgestaltung[+].

[...]

Der Urzins[+] ist nicht die Bezahlung einer Funktion oder eines Dienstes, er ist nicht die Belohnung, die für Enthaltung von der Kapitalaufzehrung gewährt wird, er ist auch kein Aufschlag, der zu einem niedrigeren Preis hinzutritt oder hinzugefügt wird. Er ist die Wertverschiedenheit in der Bewertung künftiger und gegenwärtiger Güter. Er ist kein Preisaufschlag, sondern der Preisabschlag, den künftige Güter gegenüber den Preisen gegenwärtiger Güter erleiden. Wenn es keinen Urzins[+] gäbe, würden die Kapitalgüter nicht etwa aufgezehrt werden. Im Gegenteil: in einer Welt ohne Urzins[+] würde stets nur gespart und für künftigem Verbrauch dienende Erzeugung investiert werden. Nicht das - unausdenkbare und mit dem menschlichen Handeln unvereinbare - Verschwinden des Urzinses[+] könnte Kapitalaufzehrung bewirken, sondern die - bei Fortbestand der elementaren Werterscheinung des Urzinses[+] - institutionell verfügte Enteignung der Zinsbezüge der Kapitalseigner. Wenn man den Zinsbezug des Kapitalisten abschafft, wird der Kapitalist gerade darum die Kapitalgüter aufbrauchen, weil Urzins[+] besteht und gegenwärtiger Verbrauch dem künftigen Verbrauch vorgezogen wird.

Man kann daher den Zins nicht «abschaffen». Man kann den Zinsbezug der Eigentümer[+] der Produktionsmittel beschränken oder beseitigen; doch dann hat man eine Lage herbeigeführt, in der die Kapitalien aufgezehrt werden. Wer den Urzins[+] beseitigen wollte, müsste die Menschen dazu bringen, einen Apfel, der in hundert Jahren verfügbar sein wird, nicht niedriger zu schätzen als einen genussreifen Apfel.

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Tim Deutschmann

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