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Sinn und Wirklichkeit

In der psychologischen und soziologischen Literatur wird an wichtigen Stellen das Wort Sinn als Begriff einer dem Menschen innewohnenden wahrnehmenden (Perzeption) und bewertenden (Evaluieren, Urteil[+]) Instanz verwendet, ohne dabei die neurophysiologischen Grundlagen dieses Teils des Seins in der notwendigen Gründlichkeit erklärt zu haben. Die Motivation der Erklärung dieses wichtigen, permanent ablaufenden Teilprozesses des Bewusstseins liegt darin begründet, dass die Wirklichkeit als die Erfahrung der sonst vom Beobachter unabhängig angenommenen Realität eine Konstruktion des Gehirns des beobachtenden Subjekts ist und also von seiner Anatomie und Konditionierung aufgrund der vergangenen sinnlichen Erfahrung der Umwelt abhängig. Baut ein Mensch auf der Grundlage seiner sinnlichen Erfahrungen ein Modell[+] der Umwelt auf, ein inneres Modell[+] der äußeren Welt, das in seinem Gedächtnis dann als Gewohntes, empirisch Wahrscheinliches erlernt wird, dann sind seine Aussagen zu dem, was als Realität bezeichnet wird von seiner Perspektive abhängig. Der sinnlich wahrnehmbare Teil der Realität erscheint als Wirklichkeit, und Wirklichkeit ist eine subjektive Konstruktion des Gehirns des wahrnehmenden und bewertenden Subjekts.

Beginn der Bezahlwand

Den Nicht-Sinn gibt es nicht, alles macht irgendwie Sinn, solange man lebt. Nur etwas, was tot ist, also nicht mehr selbst ist, macht für sich selbst keinen Sinn mehr, sondern vielleicht nur noch für andere. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns baut u.a. auf den Ergebnissen der Hirnforschung auf. Ein zentraler Begriff in Luhmanns[+] Theorie ist der des Sinns. Luhmann[+] schreibt dazu in Kapitel 2 seines Buches soziale Systeme mit dem Titel „Sinn“:

„Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten[+] des Erlebens und Handelns.“
[...]
„Die Verweisung selbst aktualisiert sich als Standpunkt der Wirklichkeit, aber sie bezieht nicht nur Wirkliches ( bzw präsumtiv Wirkliches) ein, sondern auch Mögliches ( konditional Wirkliches) und Negatives (Unwirkliches, Unmögliches).“
[...]
„Sinn stattet das hier aktuell vollzogene Erleben oder Handeln mit redundanten Möglichkeiten[+] aus.“
[...]
„Mit jedem Sinn, mit beliebigem Sinn wird unfassbar hohe Komplexität ( Weltkomplexität ) appräsentiert und für die Operationen psychischer[+] bzw sozialer Systeme verfügbar gehalten.“
[...]
„Sinn ist mithin - der Form, nicht im inhalt nach - Wiedergabe von Komplexität, und zwar eine Form der Wiedergabe, die punktuellen Zugriff, wo immer ansetzend, erlaubt, zugleich aber jeden solchen Zugriff als Selektion[+] ausweist und, wenn man so sagen darf, unter Verantwortung stellt.“
[...]
„Sinn korrespondiert als evolutionäres Universales schließlich auch mit der These der Geschlossenheit selbstreferentieller Systembildungen. Geschlossenheit der selbstreferentiellen Ordnung[+] wird hier gleichbedeutend mit endloser Offenheit der Welt. Diese Offenheit wird nämlich durch die Selbstreferentialität von Sinn konstituiert und durch sie laufend aktualisiert. Sinn verweist immer wieder auf Sinn und nie aus Sinnhaftem hinaus auf etwas anderes. Systeme, die an Sinn gebunden sind, können daher nicht sinnfrei erleben oder handeln, sie können die Verweisung von Sinn auf Sinn nicht sprengen, in der sie selbst unausschließbar impliziert sind. Innerhalb der sinnhaft - selbstreferentiellen Organisation der Welt verfügt man über die Möglichkeit[+] des Negierens, aber diese Möglichkeit[+] kann ihrerseits nur sinnhaft gebraucht werden. Auch Negationen haben, nur dadurch sind sie anschließbar, Sinn. Jeder Anfrage zur Negation von Sinn überhaupt würde also Sinn wieder voraussetzen, würde in der Welt stattfinden müssen. Sinn ist also eine unnegierbare, eine differenzlose Kategorie. Ihre Aufhebung wäre im strengsten Sinne »annihilatio« - und das wäre Sache einer undenkbaren externen Instanz.“
Jede Form der Meditation ist demzufolge ein selbstreferentieller Zustand, der sich selbst aus sich selbst heraus regeneriert. Aber auch jede fortgesetzte Beziehung erfüllt dieses Kriterium der Selbstreferentialität und Sinn-Reproduktion. Es ist kein Zufall, dass Sinn und Sein im Deutschen ähnliche Wörter sind. Nur im Sinn findet man keine Abspaltung von sich selbst, weil alles wieder irgendwie wieder Sinn macht.

Der Sinn und das Sinnliche

Es muss im Folgenden also sorgsam zwischen beobachtendem und beobachtetem Subjekt unterschieden werden, wenn es sich bei dem Beobachteten um ein Lebewesen handelt, das möglicherweise über einen eigenen Wahrnehmungs- und Bewertungsapparat, Sinn, verfügt. Für je ein beobachtendes Subjekt ist das jeweils andere, beobachtete Subjekt Objekt. Beobachtet ein Subjekt (ein Ego) ein anderes, so wird es für es zu einem Objekt (zum Alter, der Andere), zu einer sinnlichen Darstellung des dahinter liegenden, nicht direkt zugänglichen Egos. Die von dem Objekt ausgehenden Wirkungen erzeugen im Wahrnehmungsapparat des Subjekts (dem Gehirn) sinnliche Reize. Beobachtungen sind also zunächst Sinneseindrücke, die im Subjekt entstehen. Sie sind selbst eine Reaktion darauf, dass das beobachtende Subjekt dem Objekt (dem Alter) physikalisch ausgesetzt ist.

Ordnungen des Sinns

Unmittelbare Sinneseindrücke erster Ordnung[+] sind das Optische (Sinn vom und durch das Sehen), das Akkustische (Sinn vom und durch das Hören), das Thermo-Taktile (das Haptische, das Tasten, Begreifen und Befühlen der Hautkontakt, die Wahrnehmung von Temperaturunterschieden und Oberflächeneigenschaften), das Olfaktorische (Riechen) sowie das Gustatorische (Schmecken). In der Weiterverarbeitung dieser Sinneseindrücke erster Ordnung[+] im Gehirn entstehen in Verbindung mit dem Gedächtnis im limbischen System dann Sinneseindrücke höherer Ordnung[+], Bewertungen der sinnlichen Eindrücke, die Emotionen und Affekte.

Der Begriff der Ordnung[+] ist hier eng verknüpft mit der Kausalität[+] eines beobachtenden Bewusstseins. Die Sinneseindrücke erster Ordnung[+] liegen dichter an der äußeren Ursache[+], die Affekte sind Wirkung und somit Sinn höherer Ordnung[+]. Zeitlich[+] folgt die Wirkung der Ursache[+], und so gibt es aufgrund der Reizleitungseigenschaften des Gehirns eine pysikalische Verzögerung, einen zeitlichen Abstand, zwischen dem Entstehen von Sinneseindrücken aufeinanderfolgender Ordnungen[+].

Auf welche Weise die Ordnungen[+] der Sinneseindrücke miteinander zusammenhängen, ist die Frage nach der Persönlichkeit, denn über die Sinne erster Art verfügen wir Menschen und die meisten Säugetiere alle, doch wie wir emotional auf etwas reagieren, ist eine individuelle Frage der Persönlichkeit.

Bewertung und der Sinn höherer Ordnung

Ein Teil des subjekt-spezifischen Wahrnehmungs- und Bewertungsapparats wird mit dem Begriff der Persönlichkeit in Verbindung gebracht. Die Persönlichkeit eines Menschen stellt sich anderen Beobachtern in Antworten und Reaktionen auf äußere Umweltreize (z.B. Fragen, Handlungen an und mit dem Subjekt) dar. Das Objekt antwortet auf Fragen, reagiert auf äußere Ereignisse. Bei der Einordnung all der Sinneseindrücke (Antworten und Reaktionen), die ein Beobachter von diesem Objekt erhält, greifen die meisten Menschen auf eigene sinnliche Kategorien, die den sinnlichen Dimensionen zugeordnet sind, zurück. Wir ordnen optische Sinneseindrücke nach Farbe, Fleckigkeit, der Art des Musters, Helligkeit, usw., akkustische nach Lautstärke, Klang, usw. und Geschmackliches nach Süße, Säure, Schärfe usw..

Diese Begriffe zur „Sortierung“ der Sinneseindrücke sind bereits Teil der Persönlichkeit. Es sind Auffassungsdimensionen der Wirklichkeit, die zu dem persönlichen Raster, Schema oder Auffassungssystem gehören, nach dem der Einzelne einen Teil der Realität als Wirklichkeit wahrnimmt und den Reiz dann in eine Bewertung (Sinneseindruck höherer Ordnung[+]) überführt. In der nächsten, der dem ersten Sinneseindruck übergeordneten Verarbeitungsstufe von Umweltreizen steht also die Quantität der Eigenschaft der Auffassungsdimension, z.B. wie laut, wie farbig, wie salzig ist das Objekt, und aus alldem entsteht im Bewusstsein des Subjektes eine komplexe Bewertung wie schmeckt, gefällt, fühlt sich gut, gerade noch gut, schlecht oder gar nicht (an).

Die Auffassungsdimensionen von Wirklichkeit sind Teil der Persönlichkeit, und diese sollten einem bewusst sein, sofern das überhaupt möglich ist, wenn man versucht, ein Gegenüber nach diesem subjektivem Schema einzuordnen. Das Beobachtete denkt, fühlt, handelt vielleicht gar nicht in den Auffassungsdimensionen, sieht die Wirklichkeit vielleicht ganz anders als das Subjekt. Man ist mit dem anderen Selbst nicht physisch[+] verbunden, und so kann man es, wenn man es nicht kennt, eigentlich nur hinsichtlich der eigenen Auffassung einordnen und damit unter Umständen völlig falsch liegen, denn man weiß ja nicht, wie das Gemeinsame (der Kommunikations- oder Handlungsgegenstand der Beziehung) für es wirklich ist.

Physikalische Realität, Erkenntnistheorie und Sinn

In der Erkenntnistheorie stehen sich zwei Strömungen gegenüber[1]: der Idealismus und Realismus. Der Standpunkt des Realismus ist grob vereinfacht, dass objektive Wirklichkeit erkennbar ist, der des Idealismus hingegen: im Subjekt entstehen Ideen der Wirklichkeit als Korrelate mit sinnlichen Erfahrungen[2]. Der Standpunkt des Konstruktivismus ist also eine idealistische Perspektive: Der Geist bringt das Materielle hervor.

Elisabeth Stachura schreibt dazu[2]:

Realität offenbart sich nur durch Beobachtung und ist nicht einfach da, jede Sichtweise ist somit zugleich subjektive Sichtweise, also verbunden mit der Person, die sie hat. Es gibt im Konstruktivismus keine unabhängige Wahrheit, die sie entdecken, sondern jede Sichtweise ist subjektiv konstruiert oder übernommen, Letzteres wird aber auch als aktive Handlung angesehen.
Auf der physikalischen Grundlage der Quantenmechanik[+] steht seit Anfang des 20. Jahrhunderts fest, dass Beobachtung, also Messung die Realität verändert, dass also beobachtete Realität physikalisch von nicht beobachteter Realität unterschieden werden muss. Insbesondere ist die Annahme, es gebe eine vom Beobachter unabhängige Realität, die sich zeitlich ohne den Beobachter genau gleich entwickelt wie eine nicht beobachtete Realität, nicht zutreffend. Es gibt also experimentelle Hinweise darauf, dass insbesondere der beobachtende Geist das Materielle erschafft und auch durch Beobachtung formt. Die Welt kann also durchaus zu dem werden, was wir in ihr sehen (wollen).

Werner Heisenberg schreibt dazu in der Nachverarbeitung und Reflektion der wissenschaftlichen Entwicklungen am Anfang des 20. Jahrhunderts, die zur Entstehung der Quantentheorie geführt haben[4]:

Damit haben Sie genau den charakteristischen Zug der heutigen Quantentheorie beschrieben. Wenn wir aus den atomaren Erscheinungen auf Gesetzmäßigkeiten schließen wollen, so stellt sich heraus, dass wir nicht mehr objektive Vorgänge in Raum und Zeit[+] gesetzmäßig verknüpfen können, sondern - um einen vorsichtigen Ausdruck brauchen - Beobachtungssituationen. Nur für diese erhalten wir empirische Gesetzmäßigkeiten. Die mathematischen Symbole, mit denen wir eine solche Beobachtungssituation beschreiben, stellen das Mögliche als das Faktische dar. Vielleicht könnte man sagen, sie stellen ein Zwischending zwischen Möglichem und Faktischem dar, das objektiv höchstens im gleichen Sinne genannt werden kann wie etwa die Temperatur in der statistischen Wärmelehre. Diese bestimmte Erkenntnis des Möglichen lässt zwar einige sichere und scharfe Prognosen zu, in der Regel aber erlaubt sie nur Schlüsse auf die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Ereignisses. Kant konnte noch nicht voraussehen, dass in Erfahrungsbereiche, die weit jenseits der täglichen Erfahrung liegen, eine Ordnung[+] des Wahrgenommenen nach dem Modell[+] des »Dings an sich« oder, wenn Sie wollen, des »Gegenstandes« nicht mehr durchgeführt werden kann, dass also, um es auf eine einfache Formel zu bringen, Atome keine Dinge oder Gegenstände mehr sind.
.... sondern durch Beobachtung entstehen. Kant wird also bestätigt: es ist uns nicht möglich, die objektive Natur der Gegenstände zu erkennen, da wir sie, oder präziser die damit verbundenen Sinnkorrelate, erst durch unsere Beobachtung konstruieren.

Messinstrumente sind also Erweiterungen des Wahrnehmungsapparats und der Sinnesorgane. Der Geist erschafft die Welt, und ob diese nur in ihm als Vorstellung existiert oder durch ihn, ist eine Frage, deren Antwort man sich angesichts der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit[+] nur annähern kann und die, wenn man es tut, so beantwortet wird, dass Materie unabhängig von experimenteller Beobachtung in entsprechender Anordnung und Vorstellung anders ist als nicht beobachtete Materie. Der beobachtende Geist verändert also die Materie.

Thure von Uexküll[+] stellt in seinem Buch 'Wirklichkeit als Geheimnis und Auftrag[+]' (1945) der Kausal-Ordnung[+] der physikalischen Welt die Sinn-Ordnung[+] der Wahrnehmung gegenüber und differenziert beide wie folgt voneinander:

1. Analyse des Begriffs der physikalischen Wirkung


Wenn wir sagen, ein Vorgang sei «abgeleitet», so meinen wir damit, dass er auf ein schon Bekanntes zurückgeführt werden kann. Dagegen sprechen wir von «ursprünglich», wenn er sich nicht auf ein schon Dagewesenes zurückführen lässt.

Nun liegt im physikalischen Begriff der Wirkung, dass der als Wirkung betrachtete Vorgang auf einen früheren zurückgeführt werden muss. Er ist also Wirkung im physikalischen Sinne nur dadurch, dass er als die Veränderung eines schon bekannten, einer Ursache[+], aufgefasst wird. Da jede Ursache[+] nun ihrerseits wieder die Wirkung einer anderen Ursache[+] ist, und so fort bis ins Unendliche, so bedeutet der physikalische Begriff der Wirkung letzten Endes nichts anderes als die Veränderung einer Veränderung.

Verändern können wir aber nur etwas schon Gegebenes, und wenn der veränderte Gegenstand dadurch nichts Neues werden, sondern nur die veränderte bekannte Ursache[+] bleiben soll, so kann die Veränderung nur quantitativer Natur sein; denn nach jeder qualitativen Veränderung würde die Ursache[+] ja nicht mehr die gleiche bleiben. Darum meint die physikalische Wirkung genau definiert: die quantitative Veränderung einer quantitativen Veränderung.

Das aber, was wir in all diesem Wechsel von Zu- und Abnahme der Quantität immer wieder als das Gleiche betrachten, muss uns als bekannt gegeben sein, oder es muss als bekannt Gegebenes vorausgesetzt werden. Das aber kann in diesem System gar nichts anderes sein als die Quantität selbst, oder deren Symbol, die Materie. Entkleidet man die physikalische Materie von ihrem rätselhaften Nimbus, so sehen wir in ihr nichts weiter als das Symbol der Quantität.

Dieser Begriff ist nun ein Letztes, er kann auf nichts Früheres zurückgeführt werden, und darum ist in der ganzen physikalischen Wirklichkeit die Materie das einzig Ursprüngliche[+], das dort als ein Vorliegendes vorausgesetzt werden muss, um überhaupt physikalisch wirken zu können. Daraus sehen wir auch, dass die Bemühungen der Physik, das Rätsel der Materie zu lösen, immer vergeblich bleiben müssen, mag man sie als letzte Teilchen, als Wellen, als Elektrizität, oder was immer beschreiben.

Der physikalische Begriff der Energie aber bedeutet nichts anderes als den Versuch, den Übergang der Quantität aus einem Mehr in ein Weniger und umgekehrt, also den Vorgang der Veränderung selbst, nicht nur sein Resultat, in einem System der physikalischen Dynamik zu fassen.


2. Das Phantastische als der Bereich des noch nicht Bekannten und die beiden Dimensionen


Der Inhalt der idealen physikalischen Möglichkeit[+] besteht also aus Gegenständen, die sich nur durch ein «Mehr» oder «Weniger» unterscheiden und dadurch abstrakt und unveränderlich, d. h. statisch vor uns zu liegen scheinen.

Dagegen ist der Inhalt der Wahnwelten steht das Ursprüngliche[+], d. h. es lässt sich nie und nirgends auf etwas schon Bekanntes zurückführen. Er ist immer, auch in seinen bescheidensten Teilausschnitten «Qualität». Qualität aber ist niemals eine feststehende Größe wie die physikalischen Gegenstände der statischen Welt, sondern sie kann sich immer nur «im Werden» zeigen, ihr Wesen erst im Verlauf eines Aktes offenbaren, der entsteht und fortschreitet und damit sich selbst verwirklicht. Die Qualität als Element der von Szene zu Szene dahinströmenden sinnlichen Welt ist immer nur «im Fluss» sie selbst. Jede Vorstellung, die sie als fertige Gegebenheit auffassen will, stellt schon eine Vergewaltigung ihres dynamischen Charakters dar.

Im Zusammenhang der sinnlichen Szenen bezieht sich zwar jede Qualität auf andere, trotzdem kann sie niemals von diesen anderen abgeleitet werden, denn die Qualität ist immer das «ganz Andere», das sich von allem übrigen qualitativ unterscheidet. Die Qualität ist also im strengsten Sinne des Wortes «das Neue». Darum ist es ein grundsätzliches Missverständnis, eine Qualität aus einer anderen erklären und herleiten zu wollen, indem man sich vorstellt, sie ginge im Verlaufe einer quantitativen Zu- oder Abnahme in die andere über. Dadurch verwechselt man das Neue mit dem Bekannten, das auch in allen quantitativen Variationen stets das Bekannte bleibt.

Einen Farbenblinden fehlt die Qualität einer Farbe, und durch keine noch so raffinierte Veränderung des physikalischen Lichtes gelingt es, die fehlende Farbe allmählich zu entwickeln. Das aber gilt für alle Bereiche.

Weil Qualität «das Neue», das aus nichts Bekanntem Ableitbare ist, kommt sie stets nur «im Sprunge» in die Welt, sie ist plötzlich da, sie «erscheint», und mit ihrem Erscheinen verwandelt sich die Welt. Sie ist immer ein ursprüngliches Sich-zeigen aus dem Verborgenen.

Nehmen wir «Erscheinen» in diesem ursprünglichen Sinne als Sich-zeigen von etwas noch nie Dagewesenem, so können wir in begründeter Weise von dem Bereich der Wahnwelten als einem Bereich des «Erscheinens» und der «Erscheinungen» sprechen. Erinnern wir uns daran, dass φαίνεσαι in diesem Sinne von den Griechen als «Erscheinen», «Sich-zeigen» gebraucht wurde, so können wir die Vorwirklichkeit, den Bereich, in dem das Konkrete unmittelbar aus dem Verborgenen auftaucht, als das Phantastische bezeichnen. In diesem Wort kommt auch unsere Einstellung zu dem Ursprünglichen[+] zum Ausdruck, das immer dort, wo wir es noch rein und nicht durch die Vorstellung gebrochen erleben, Schauer und Verwunderung erweckt. Damit unterscheidet sich die phantastische Erscheinung grundsätzlich von der Erscheinung des vorgestellten in der alltäglichen Welt.

Wir sprachen eingangs von zwei verschiedenen Dimensionen, die in unserem modernen Naturbegriff verschwimmen. Wir haben jetzt die Möglichkeit[+], diese beiden Dimensionen näher zu bestimmen. Die Dimension der physikalischen Wirklichkeit ist das Rätsel; denn «Rätsel» enthält immer die Aufforderung zur Lösung in sich, d. h. Aber das Rätselhafte auf ein Bekanntes zurückzuführen und als dessen Veränderung zu begreifen. Ist das gelungen, so ist das Rätsel gelöst, und der rätselhafte Vorgang hat seinen Platz in der abstrakten, objektiven Wirklichkeit der Quantitäten gefunden.

Die Dimension des Phantastischen aber ist das Geheimnis, denn «Geheimnis» meint die unmittelbare Beziehung zum Ursprung[+], sieht im Geheimnisvollen das Erscheinen des noch nie Dagewesenen, das aus dem Verborgenen hervortaucht und darin wieder verschwindet. Nur in der Dimension des Geheimnisses können wir von der Natur als Schöpferin ihrer Gestalten sprechen, ohne damit baren Unsinn zu behaupten.


3. Der Qualität und die beiden Ordnungen[+]


Die moderne Naturwissenschaft, obgleich sie im Widerspruch mit sich selbst - und wie wir sehen, gänzlich unbegründet - immer wieder von der Natur als Schöpferin spricht, behauptet, eine Auffassung, welche die Natur nicht als physikalischen Zusammenhang begreife, bedeute das Ende aller Forschung.

Darin kommt die Meinung zum Ausdruck, es gebe außer der Kausalordnung keine andere Ordnung[+], die dem menschlichen Erkennen zugänglich ist. Diese Meinung ist falsch. Allerdings verzichtet eine Naturforschung, welche die Natur in der Dimension des Geheimnisses sieht und sie nicht ihres ursprünglichen und phantastischen Charakters entkleidet, auf jene modernen Mythen, die über die Entstehung der Welt, der Lebewesen und der Arten Auskunft geben, von denen der Deszendenzmythos sich heute besonderer Beliebtheit erfreut. Für sie bleibt die Entstehung des Konkreten Geheimnis, und sie begnügt sich mit der Feststellung, dass es da ist, ohne den immer wieder sinnlosen Versuch zu erneuern, das Konkrete aus dem quantitativen Übergang des Abstrakten erklären zu wollen.

(Wir entsinnen uns in diesem Zusammenhang an die Gegenüberstellung der anfangslosen nicht geschaffenen Welt, in der die Kette von Ursache[+] und Wirkung in Vergangenheit und Zukunft ins Unendliche läuft, und der Welt, die aus dem Schöpfungsakt Gottes als Geheimnis entspringt, die wir eingangs bei der Erwähnung der averoistischen und humanistischen Naturlehren streiften.)

Was ist das aber für eine Ordnung[+] des Konkreten, die wir der Kausalordnung gegenüberstellen? Wenn wir das Konkrete betrachten, sehen wir, dass es nirgendwo aus dem bloßen Neben- und Nacheinander einzelner Qualitäten besteht, die wie die Farbpunkte eines bunten Feuerwerks vor uns auftauchen und wieder verschwinden. Vielmehr offenbart sich jede Qualität erst in dem Zusammenhang mit anderem als das, was sie ist. Das Qualitative ist also überall schon der Ausdruck einer bestimmten Ordnung[+]; denn jede Qualität ist immer nur als integrierender Bestandteil eines sinnvollen Ganzen das Bestimmte, nämlich diese oder jene Qualität.

Die Vorstellung, dass unsere ursprüngliche Wahrnehmung aus einem Chaos einzelner Empfindungen bestünde, ist schon in sich selbst widerspruchsvoll; denn sie verkennt das Wesen des Qualitativen, wenn sie die Qualität als etwas schon in sich selbst Sinnvolles voraussetzt und dann die Einheit der sinnlichen Welt als eine Summe solcher nur in sich und für sich selbst sinnvoller Qualitäten konstruieren will. Auch wenn wir die Qualität als dynamisches, «in Fluss» befindliches Element unserer in Szenen verlaufenden sinnlichen Welt auffassen, so lässt sich diese doch niemals aus dem zufälligen Zusammenschluss einzelner Rinnsale, wie ein Strom als die Summe seiner Zuflüsse begreifen. Hier stoßen wir vielmehr auf ein Missverständnis grundsätzlicher Art: das Element der Szenen des Lebens kann nicht außerhalb von diesen als dies oder jenes begriffen werden; denn jede einzelne Qualität stellt ja nur eine sekundär gewonnene Abstraktion aus dem Ursprünglichen[+] dar, ist ein bewusstes Absehen von dem Übrigen, eine Verarmung an Sinn. Versuchen wir die Qualität einmal wirklich aus allen Zusammenhängen loszulösen, so wird aus dem farbigen, duftenden und tönenden Augenblick ein wesenloser Schatten, ein verwirrendes Nichts. Die Qualität ist Element der sinnlichen Welt nur insofern wir sie im strengen Sinne des Wortes als deren Moment, als einen Augenblick der weiter schreitenden Szene ansehen.

Auch die einzelnen Empfindungen, als letzte Elemente des Phantastischen, sind gerade dadurch, dass sie Qualitäten - Sinnesqualitäten - darstellen, nur als «aufgehaltene Augenblicke» eines Gesamtvorganges zu begreifen, der sich von der einen Empfindung zur anderen fortschreitend realisiert. «Das Rote», «das Grüne», «das Gelbe» usw. werden als isolierte Wesenheiten zu völlig sinnlosen Begriffen, die beziehungslos im Gedankenraum umher flattern. Nur als festgehaltene Augenblicke des Sehens, das sich in ihnen in dieser oder jener Möglichkeit[+] konkret manifestiert, werden sie sinnvoll und zu den eigentlichen Elementen der sinnlichen Welt. Genauso sind die einzelnen Töne nur als Teilqualitäten des Hörens zu verstehen.

In dem Bereich des Phantastischen als dynamischer und nicht statischer Welt bekommt der Satz des Widerspruchs einen anderen Sinn. Er ist nicht aufgehoben, denn eine Qualität ist nicht die andere, aber die ursprüngliche Einheit des lebendigen Vorgangs ist nicht jetzt diese und dann jene Qualität, sondern immer diese «und» jene Qualität zugleich; das aber nicht als deren Summe, sondern als sinngebende Einheit. So ist das Sehen nicht jetzt rot, dann blau oder grün, sondern es ist die ursprüngliche Einheit, indem erst rot, blau und grün ihre Bestimmung als diese oder jene Variante des Farbensehens erhalten; denn nicht das Sehen ist eine Abstraktion aus den einzelnen Farb- und Lichtempfindungen, die von deren qualitativen Besonderheiten absieht, woraus überhaupt gar keinen Begriff einspringen könnte, sondern die einzelnen Empfindungen stellen Abstraktionen aus einem Ursprünglicheren[+] dar, wobei dessen verschiedene Möglichkeiten[+] festgehalten und durch Abstraktion voneinander geschieden werden. Darum bleiben die einzelnen Qualitäten auch immer in einer bestimmten Ordnung[+] zueinander, in der sich die bei der Abstraktion verlorengegangene Einheit verbirgt. Diese Beziehungen des Qualitativen untereinander, in denen die Teil Qualitäten erst als dieses oder jenes sichtbar werden, erschließen die Sinn-Ordnung[+] des Konkreten.

Eine «Analyse der Empfindungen», die von der Vorstellung ausgeht, die ursprüngliche Wahrnehmung sei ein Chaos zusammenhangloser Empfindungsqualitäten, übersieht schon in der Voraussetzung den wesentlichen Charakter des Qualitativen, das immer nur in der Beziehung zum anderen die eigene Qualität offenbart, also immer integrierender Bestandteil einer höheren Einheit ist. Wir können daher sagen, die einzelnen Qualitäten beleuchten sich gegenseitig, und ergänzen sich damit zu der höheren Einheit, oder die einzelne Qualität wird immer nur auf dem Hintergrund dieser Einheit als die Qualität sichtbar, die sich von den anderen unterscheidet. Das ist für jeden Maler selbstverständlich. Warum ist das Rot oder das Blau auf einem Bilde von Rubens oder van Dyck besonders «rot» und besonders «blau»? Doch nicht, weil er auf seiner Palette andere chemische Farben hatte als die Zeitgenossen[+], sondern weil sie in einem besonderen qualitativen Zusammenklang mit den anderen Farben des Bildes erscheinen.

Davon machen auch die höheren qualitativen Einheiten keine Ausnahme: Sehen, Hören und Fühlen ergänzen sich gegenseitig zu der Qualität «Wahrnehmung», und sie beleuchten sich gegenseitig; denn nur im Unterschied und Gegensatz zu den anderen Wahrnehmungsqualitäten wird die Besonderheit der einzelnen sichtbar. Das Sehen ist nur insofern eine besondere Qualität, als es «das Andere» ist, d. h. aber es offenbart sich nur auf dem Hintergrunde des Hörens, Fühlens usw. als eine besondere von diesen anderen unterschiedene Wahrnehmungsqualität.

Wir sehen also, dass wir die sinnliche Welt nicht «von unten nach oben» aus der Addition einzelner Elemente aufbauen, sondern dass wir die einzelnen Elemente nur «von oben nach unten» durch Abstraktionen gewinnen können, und dass selbst die letzten Elemente dieser Abstraktionen noch den Charakter des Ergänzungs- und Beleuchtungsbedürftigen bewahren und wie Teile eines Organismus auf die Ordnung[+] hinweisen, in der sie stehen. Erst wenn wir so den Begriff der Qualität wirklich von allen Vorstellungsresten des Quantitativen befreien, wird jene Ordnung[+] sichtbar, die wir als «Sinn-Ordnung[+]» der «Kausal-Ordnung[+]» gegenüberstellen müssen.

In der Sinn-Ordnung[+] sprechen sich die Inhalte und Werte des Lebens unmittelbar aus. In der Kausal-Ordnung[+] aber reihen wir abstrakte Quantitäten aneinander, und aus deren Summe entsteht die Welt, die unter dem Gesichtspunkt des menschlichen Wirkens gegliedert ist.

Der Sinn-Ordnung[+] entspricht die Frage nach dem Grunde, der Kausal-Ordnung[+] in die Frage nach der Ursache[+]. Der Grund des Ursprünglichen[+] aber, in dem Handlung und Wahrnehmung des Menschen sich in der sinnvollen Einheit der Wahnwelten gegenseitig bestimmen, ist immer das Unmittelbare, das Leben selbst, das «flutend strömt gesteigerte Gestalten». Die Ursache[+] einer Wirkung dagegen ist nur die quantitative Veränderung anderer Veränderungen, in der sich die Methode manifestiert.

Die Sinn-Ordnung[+] ist die Kategorie der lebendigen Natur, die als das Phantastische in der Dimension des Geheimnisses gesehen wird. Die Kausal-Ordnung[+] ist die Kategorie des technisch-praktischen Erkennens einer Natur, die als physikalische Wirklichkeit in der Dimension des Rätsels gesehen wird.
Ende der Bezahlwand

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Querverweise auf 'Sinn und Wirklichkeit'

Tim Deutschmann

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